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Andacht aus dem Gemeindebrief

Gott, der Dich sieht

Liebe Menschen in Bürgel, in meiner Kindheit habe ich gerne Verstecken gespielt. Während jemand mit geschlossenen Augen zu zählen begann, suchte ich das passende Versteck. Nein, nicht das erstbeste. Ein bisschen kreativ musste es schon sein. Bei allem Suchen und Überlegen war auch Eile angesagt. Denn gerade so im Versteck angekommen, ertönte schon ein lautes „Ich komme!“

Das war ein Spaß, aus der Ferne mitzuerleben, wie jemand suchte. Wie seine Augen mein Versteck wohl streiften, aber mich nicht fanden. Das eigene Versteck hatte sich wohl als gute Wahl herausgestellt.

Und dann erst der Nervenkitzel, kurz bevor – ganz unvermeidlich – der andere mich in einem Versteck fand: Ein überraschter Blick und Spannung, die sich in Lachen und Freude auflöste. Bisher war ich nur ein Bild vor einem inneren Auge geblieben. Doch plötzlich wurde ich gefunden, wurde zur lebendigen Wirklichkeit für jemanden.

Ich glaube dieses Spiel aus Kindheitstagen drückt viel über tiefe menschliche Sehnsüchte aus: Gefunden, erkannt und verstanden zu werden. Beim Versteckenspielen fühlte ich mich frei: auszubrechen, Distanz zu suchen, mich zu entfernen, und doch darauf zu vertrauen: Ich würde schon wiedergefunden werden.

Auch Hagar, eine Frau in der Geschichte von Abraham und Sara, macht diese Erfahrung (vgl. 1. Mose 16): Der Konflikt mit Sarai, Abrams Frau, eskaliert so sehr, dass ihr nur noch die Flucht bleibt. Möglichst weit weg. Um sich vor weiterem Unheil zu verstecken.

Ihre Not ist kein Kinderspiel, vielleicht geht es für sie sogar um Leben und Tod. Doch Gott schickt einen Engel. Der findet sie, spricht sie an, hört ihr zu, gibt ihr einen Rat.

Nach alledem kommt sie zu dem Schluss: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (1. Mose 16,13) Gefunden, erkannt, verstanden werden. Gesehen werden. Gott sieht mich an. Auch das Unfertige und Zerbrochene. Gott sieht mich an, auch wenn ich mich vor der Realität verstecke. Hagar erkennt das. Und so kann sie weiterleben.

Wo verstecke ich mich heute? Hinter Ausreden, falschen Versprechungen, altbewährten Meinungen? Hinter Selbstmitleid und Enttäuschungen? Wo vermeide ich die Auseinandersetzung? Die ehrliche Aussprache? „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (1. Mose 16,13)

Ja, und ein Gott, der mich nicht auf ewig im Versteck sitzen lässt. Sondern der mich sieht und auf mich achtet, wenn ich weitergehe.

Ihr Pfarrer Jonathan Stoll


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